Mit Bildern begann die Flucht ins Leben
Lange lagen die Arbeiten von Fred Stein unentdeckt in New York, nun gibt es die erste Retrospektive des Exilfotografen
Von Mara Delius
Einstein hatte ihm zunächst nur zehn Minuten eingeräumt, sein Porträt aufzunehmen, am Ende bleibt er zwei Stunden in Princeton, die beiden erzählen sich einen Witz nach dem nächsten. Als er Arendt trifft, diskutiert er mit ihr den halben Nachmittag, sie blickt wie aus einem Gedankengang hinaus, der Blick geschärft, eindringlich, lauernd, die Zigarette in der Hand kurz abgesetzt, um gleich weiterzusprechen. Die bierglasbodendicke Brille von Arnold Zweig habe ihn terrorisiert, notiert er, ewig spiegelt sie das Licht, irgendwann beim Sprechen über sein letztes Manuskript neigt der Schriftsteller zufällig den Kopf und sieht nicht mehr aus wie ein geblendeter Otter.
Jedes der Porträtbilder, die so entstehen, ist eine angedeutete Erzählung: Abbild eines lebendigen Gesprächs, einer Situation, in der zwei über etwas miteinander sprechen, eines Austauschs von Gedanken, der zu einer beiläufigen Charakterstudie führt; es ist, als trügen die Porträtbilder die Bewegung hinter der Begegnung mit, den Ton der Stimme, die Gesten der Hand, die Unsicherheiten im Blick. Er wolle die Geschichte der Person vor der Kamera zeigen, sagte der Fotograf selbst, und zwar die äußere und die innere Geschichte.
Fred Stein hat die Größen des Zwanzigsten Jahrhunderts fotografiert, die politischen, intellektuellen und künstlerischen: Adenauer, Dalí, Brandt, Chagall, Corbusier, Wright, Egon Erwin Kisch, den rasenden Reporter, in einem seltenen Moment der Ruhe beim Anzünden einer Zigarette in Versailles, Marlene Dietrich, mit leichten Falten um die Augen, noch erhaben schön wie in früheren Jahren, aber inzwischen leicht melancholisch umflort im Pelz, einen verschatteten Alfred Kantorowicz, Thomas Mann in aufmerksamer Strenge am Sekretär. Über 1200 Porträts sind entstanden, es gibt mindestens ebenso viele Bilder von Straßenszenen in Paris und New York, die an Brassai erinnern, Doisneau, Man Ray, Walker Evans und August Sander. Trotzdem ist der Fotograf Fred Stein den meisten unbekannt, allenfalls wenigen vertraut, die erste Retrospektive seines Werks ist jetzt zu sehen, beinahe fünfzig Jahre nach seinem Tod, im Jüdischen MuseumBerlin.
Die Geschichten in Fred Steins Bildern lassen sich nicht erzählen ohne seine Geschichte. Und sie ist die einer Vertreibung durch die Nazideutschen, eines erzwungenen Exils in Amerika, eines Sehenlernens der Dinge als eine Flucht ins Leben zurück. 1909 wird Fred Stein als
Sohn eines Rabbiners in Dresden geboren, er studiert Rechtswissenschaften an der Universität Leipzig und mit seiner Leica den Alltag um sich herum, er begreift sich als Sozialist und will Strafverteidiger werden. 1933 zwingt ihn die Machtergreifung,Deutschland zu verlassen, Fred Stein flieht mit seiner Frau Lilo nach Paris und später quer durchs Land, über Marseilles und den Atlantik nach New York. Amerika macht ihn zu einem Fotografen: Er gründet ein winziges Studio und wird Teil einer Szene von Künstlern und Exilanten in Manhattan, bekommt Aufträge von "Times" und anderen Magazinen, fotografiert bei Schriftstellerversammlungen und Premieren, für eine Zeit wird er Mitglied der unabhängigen Fotografenvereinigung, der "Photo League". Vielleicht ist es Zufall, vielleicht hatte von ihm irgendwann auch eine alteuropäische Scheu einem Leben gegenüber, das von so vielen Unwägbarkeiten geprägt war, Besitz ergriffen, jedenfalls wird Fred Stein ein Künstler, der sich nie ganz durchgesetzt hat, auch wenn er es hätte können, und auch das ist Teil der Geschichte, die in den Bildern angelegt ist.
Er sei ein Intellektueller gewesen, sagt der Sohn von Fred Stein, Peter Stein, der Filmemacher in New York ist und den Nachlass verwaltet, "außerdem war er radikal, linksgerichtet, gegen jede Form von Totalitarismen". Er erinnert den Vater lesend, diskutierend, "immer mit der Kamera greifbar", wie eine Versicherung. Die Eltern hätten wenig von ihrer frühen Zeit in Dresden, Leipzig und später Paris geredet, auch wenn zu Hause Französisch und Deutsch gesprochen wurde. Nach dem Krieg sei sein Vater gelegentlich wieder in Deutschland gewesen, sagt Peter Stein, meist für Aufträge oder um sich mit Willy Brandt zu treffen, mit dem er befreundet war. 1961 sollte die Essaysammlung "Das war nicht unser Deutschland" erscheinen, mit Aufsätzen von Exilintellektuellen, doch es fand sich kein Verlag. Die Vergangenheit war nicht überbestimmend für seine
Gegenwart in Amerika, die historische Fatalität stand nicht im Zentrum seiner Arbeiten. Dennoch ziehen sich die Spuren des Exils wie ein Schatten durch die Bilder.
"Dresden vertrieb mich, so wurde ich Fotograf", in dem knappen Satz, mit dem Fred Stein seinen Weg vom deutsch-jüdischen Juristen zum amerikanisierten Fotografen zusammenfasst, liegt die brutale Klarheit des Rückblicks auf eine Zeit, die in Paris beginnt, der ersten Station seines Exils, dem Anfang eines anderen Lebens und einer künstlerischen Ästhetik. 1933 fotografiert Stein so, wie es in den Dreißigerjahren avantgardistisch war: Er macht schnelle, spontane Aufnahmen mit seiner wendigen Kamera, auf der Straße. Es sind meist ruhige, stille Szenen, die er fotografiert, merkwürdige Zwischenorte in der Stadt: eine zackige Biegung an einem Seineufer, Regenspuren, die sich wie Langustenfühler über den Asphalt bewegen, die einsame Umarmung eines Paars im Schnee, immer wieder Menschen, die an Ecken stehen, um etwas zu verkaufen, Blumen, Brot, Zeitungen. Man kann diesen Einsichten in die Straßen unterstellen, sie seien eine Art des Politischen, seine Umgebung mit einem Dokument zu kommentieren, Steins fotografischer Blick sei also ein forschender, soziologischer, humanistischer. Er ist aber vor allem ein ästhetischer, der an die Möglichkeit der Erzählbarkeit der Welt aus ihren Formen glaubt. Stein fotografiert oft aus seltsam schrägen Winkeln, manchmal nachts, es sind Aufnahmen, die knapp und schlaglichtartig einen Moment von Spannung ausstellen, wie der Beginn einer Novelle.
In jenen Jahren beschäftigt er sich mit den Studien von August Sander und Brassais Nachtaufnahmen. Vor allem aber beginnt er, eine formalistische Sichtweise zu entwickeln, eine Vorliebe für klare, lineare, architektonische Strukturen. Er porträtiert Corbusier in Versailles und dessen Arbeiten in Suresnes, beschäftigt sich in Portfolios mit der Verbindung von Glas, Stahl und Licht, die er in technischen Zeitschriften
veröffentlicht. Nebenbei entstehen beiläufige Bilder, "Mann mit Schwein" etwa, auf dem ein grimmiger Mann mit Badekappe und ein Schwein durch einen Fluss schwimmen, das Schwein heiter voran, Bilder, die Steins Blick etwas Belustigt-Empfindsames geben, bei aller Klarheit in der Ausrichtung.
1942 in New York angekommen, ist es, als biete Manhattan die Kulisse, die seinem Blick entspricht: Die Aufnahmen von Straßenszenen wirken weniger weich, sphärisch und möglichkeitsandeutend als in Paris, sie sind distanzierter, prosaischer, auch wenn die Motive ähnliche sind: Schlafende auf einer Wiese im Park, Kinder beim wilden Spielen an einem Hydranten, die glitzernden Lichter der Stadt bei Nacht. Neben Aufnahmen vom Central Park im Schnee oder dem steinig glitzernden Empire State Building entstehen zwischen den Blocks und geometrischen Strukturen vor allem die Porträts von Intellektuellen.
Sein Vater habe, berichtet Peter Stein, beim Fotografieren immer mit den Künstlern und Intellektuellen, die er aufnahm, debattiert, eine Neuerung in einer Zeit, in der Porträtbilder eher komponiert und im Studio gemacht wurden. Er habe nicht nur aus dem Moment, sondern sozusagen aus dem Wort heraus fotografiert, keiner wurde in Szene gesetzt, geschminkt, retouchiert, darauf habe er bestanden, vielleicht eine europäische Eigenart. Das Bild als unmittelbares Zeugnis eines Prozesses des Denkens: Gerade deswegen sind die Porträts bedeutend, in einem doppelten Sinn. Einerseits zeigen sie den kritischen Moment, in dem sich Gedanken und Physiognomie einer Person zu ihrem Ausdruck zu verbinden scheinen – Thomas Manns aufmerksames Aufrichten in der Fotografie von 1943 etwa hat etwas Besorgtes, Strenges, Hannah Arendts hingestreckte Haltung 1944 wirkt fordernd. Andererseits übermitteln sie die historische Bedeutung eines Mannes, der mit ihnen ein neues Leben fand. Die erzählenden Porträtbilder sind also gerade kein Abschluss, sondern die Fortführung einer
Geschichte. In Nazideutschland durfte Fred Stein nicht Strafverteidiger werden. Dass er dieses Bedürfnis nach Argumentieren, Verteidigen, Gerechtigkeitgeschehenlassen dann ab 1933 mit der Kamera zu erfüllen versuchte, wäre zu platt psychologisierend – dennoch zeigen die Bilder die Behauptung seiner selbst, ein Festhalten im Moment, immer wieder; eine Flucht ins Leben, durch den fotografischen Blick, den er in Amerika entwickelte.
Die Fotografien von Fred Stein wurden erstmals vor zwei Jahren im Rahmen von "Escape to Life", einer Tagung über Exilliteratur am German Department der "New York University", ausgestellt. Sosehr amerikanisiert wie die Bilder sind, sosehr sie die Straßen, Gebäude und Denker des New Yorks der Vierziger, Fünfziger und Sechziger zeigen, so wichtig ist es, dass sie nun in Deutschland zu sehen sind. Fred Stein wollte immer das äußere und das innere Wesen eines Porträtierten abbilden. Mit seinen erzählenden Fotografien erhält die Geschichte, die äußere zwischen 1933 und 1945, ein inneres Bild.
Fred Stein: Paris New York. Kehrer, Heidelberg. 196 S., 49,90 €. Die Ausstellung im Jüdischen Museum Berlin läuft bis zum 23. März.
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